Beschaffungsstrategien in Abhängigkeit von der Struktur der Vertriebsprodukte und der enthaltenen Risikopositionen
Beschaffungsstrategien für Strom und Gas dokumentieren schriftlich, wie das Stadtwerk oder energieintensive Unternehmen an den Energiehandelsmärkten agieren möchte. Mögliche Inhalte sind:
- die abgestimmte Mengenbasis für die Beschaffung
- Freiräume von Mitarbeitern und Führungskräften im Handel
- Limite
- zu überwachende Ergebnis- und Risikokennzahlen
Die Gestaltung der Beschaffungsstrategie hängt immer von dem Beschaffungszweck, d.h. dem Produkt, dem Vertriebsportfolio oder der Bedarfsstruktur ab, für die beschafft werden soll. Die Erarbeitung von Beschaffungsstrategien ist vor diesem Hintergrund ein Bestandteil der Geschäftsentwicklung und eng verbunden mit dem wichtigen Punkt der adequaten Bepreisung des Produktes.
Die Bepreisung eines Produktes hängt von den im Einkauf erzielbaren Konditionen – und somit von der Beschaffungsstrategie – ab. Umgekehrt muss die Beschaffungsstrategie eine optimale Absicherung für die dem Kunden in dem Endprodukt gewährten Konditionen darstellen. D.h. eine Beschaffungsstrategie ist immer eine Hedgestrategie, eine Absicherungsstrategie für ein gegebenes Produktportfolio.
Beispiele für Beschaffungsstrategien Strom und Gas
Stadtwerke unterteilen typischerweise für ihre Beschaffung den Endkundenabsatz Strom und Gas im ersten Schritt in zwei Portfolien:
- sicherer Absatz und
- Back-to-Back-Kunden
Als sicherer Absatz gilt dabei der Absatz im eigenen Netzgebiet bei kleinen und mittleren Kunden. Die Absatzmenge kann in Menge und Struktur einigermaßen gut prognostiziert werden. Verlust- und Zuwachsraten werden aus der Vergangenheit fortgeschrieben und zeigen eine verhältnismäßig geringe Abhängigkeit von den tatsächlich gestellten Preisen für dieses Segment, sofern sich diese Preise nicht zu wesentlich von den Wettbewerbern unterscheiden. Für dieses Segment wird im allgemeinen eine vorhaltende Beschaffungsstrategie gewählt.
Back-to-Back-Kunden sind dagegen ein geplanter bzw. erhoffter Absatz bei größeren Kunden, die man derzeit nicht kennt. Diesen Kunden werden Angebote auf Basis des aktuellen Marktpreises gestellt, die individuelle Zuschlagswahrscheinlichkeit ist gering. Kommt es nicht zum Vertrag, soll die Menge auch nicht beschafft werden.
In den beiden Fällen unterscheidet sich nicht nur die Beschaffungsstrategie sondern in Folge auch die Preisstellung. Die beiden Kundenklassen werden somit sinnvollerweise in getrennten Portfolien geführt.
Portfoliostrukturen
Wie das Beispiel zeigt, stehen Überlegungen zur richtigen Beschaffungsstrategie für das jeweilige Strom oder Gasprodukt in direkten Zusammenhang zu einer adequaten Portfoliostruktur, die ähnlich beschaffte und bepreiste Produkte in dasselbe Portfolio gruppiert. Üblich und sinnvoll ist es dabei, zumindest die folgenden Bücher zu unterscheiden:
- sicherer Absatz (+ Netz)
- Back-to-Back-Kunden
- Eigenerzeugung
Der sichere Absatz wird in der Regel vorhaltend beschafft, die Beschaffung für Back-to-Back-Kunden erfolgt kundenscharf im Rahmen des Angebotsprozesses.
Weitere Portfolien können sinnvoll sein: Z.B. ist es zweckmäßig, Kunden mit Portfoliomanagementverträgen, die Tranchenbeschaffung nach Wunsch des Kunden erlauben, in eigenen Büchern zu führen. Dies gewährleistet auch die Bereitstellung des oftmals mit solchen Verträgen verbundenen Berichtswesens.
Bei Verträgen mit Mengenflexibilitäten kann es sinnvoll sein, marktrationale Kunden von temperatur- und bedarfsgetriebenen Kunden zu trennen. Weiterhin sollten Verträge nach ihren Commodityabhängigkeiten Strom, Gas, HEL (Öl), diverse Multicommoditypositionen, … getrennt geführt werden.
Diese Commodityrisiken sollten dann ebenfalls auf Portfoliobasis abgesichert werden. Wie man das macht, steht beispielhaft für ölgebundene Fernwärmeverträge in dem Artikel Fernwärmepreise & Fernwärmerisiken. Die Absicherung des Kraftwerksergebnisses auf dem Terminmarkt sollte ebenfalls getrennt verbucht werden. Wieviele Bücher erforderlich sind, hängt von der zugrundeliegenden Mengenbasis und der Komplexität des Geschäftsmodells ab.
Im oben angeführten einfachen Fall kommt man zu einer Portfoliostruktur wie folgt:
Gerade wenn sich bereits einige Portfolien mehr angesammelt haben, ist es oftmals nicht erwünscht, dass jedes einzelne Buch direkt am Markt geschlossen wird. Dies führt zu unnötig hohen Umsätzen und zu Verlusten aus dem Bid-Offer-Spread. Somit werden oftmals notwendige Käufe und Verkäufe aus den verschiedenen Büchern zunächst in ein „Strukturbuch“ überführt und nur die resultierende Nettoposition wird aus diesem Buch heraus am Markt geschlossen:
Die Darstellung eines Strukturbuches ermöglicht, dass der Vertrieb seine bekannte Absatzprognose 1:1 beim Handel, d.h. über das Strukturbuch einkaufen kann und somit nur für die Mengenrisiken seiner Kunden, nicht für die Risiken aus der Differenz zwischen der Absatzprognose und ihrem optimalen Hedge einstehen muss. Dies erlaubt eine saubere Zuordnung einzelner Risiken zu den verantwortlichen Geschäftsbereichen.
Hieraus wird ersichtlich, dass die Gestaltung der Portfoliostrukturen auch der Ermittlung einzelner Ergebnisse und ihrer Zuweisung zu den verantwortlichen Geschäftsbereichen dient. Jedes Buch sollte einen Eigner haben in dem Sinne, dass das Ergebnis aus dem Buch dem benannten Geschäft zugewiesen wird. Buchhalterische Zwänge insbesondere die Bildung einer Bewertungseinheit für die Erzeugung können dazu führen, dass die Beschaffung für einzelne Bücher dennoch als externe Verträge dargestellt werden muss.
Viele Stadtwerke bezeichnen ihre Portfoliostruktur selbst als „historisch gewachsen“. Rationale Portfoliostrukturen, die so einfach wie möglich und so detailliert wie nötig gehalten sind, vereinfachen die Tagesprozesse und sorgen für Ergebnistransparenz.
Vorhaltende Beschaffung Strom und Gas
Eine vorhaltende Beschaffung wird für den sicheren Bedarf eines Stadtwerks oder Industrieunternehmens angewandt. Sie hat den Vorteil, dass der Strom- oder Gaspreis vor Beginn der Lieferung fixiert ist. Der fixierte Beschaffungspreis ist für ein Stadtwerk Basis für die Festlegung der Endkundenpreise, für ein Industrieunternehmen ist hiermit ein Teil der Produktionskosten fixiert.
Voraussetzung für eine vorhaltende Beschaffung ist eine hinreichend gute Bedarfsprognose. Dies beinhaltet für ein Stadtwerk insbesondere auch die Zuordnung von Kundengruppen zu einem Bestandsportfolio im Gegensatz zu Back-to-Back-Kunden, die jedes Jahr neu gewonnen werden müssen. Des weiteren müssen Kundenverluste oder -zugewinne geschätzt werden. Für die Schätzung des Gasbedarfs zukünftiger Lieferjahre wird der Verbrauch vergangener Jahre temperaturbereinigt, d.h. auf ein Durchschnittstemperaturjahr umgerechnet.
Die für eine vorhaltende Beschaffung gewählte Beschaffungsstrategie beinhaltet dann typischerweise die folgenden Punkte:
- Beginn und Enddatum des Beschaffungszeitraums
- Anzahl Beschaffungszeitpunkte
- Limite
- Definition der Beschaffungsprodukte
Ziel der Beschaffungsstrategie ist es typischerweise, einen Beschaffungspreis zu erzielen, der im Mittelfeld der zwischen Beginn und Enddatum des Beschaffungszeitraums sichtbaren Terminpreise liegt. Dies führt dazu, dass mit relativer Sicherheit davon ausgegangen werden kann, dass der eigene erzielte Beschaffungspreis von denen der Wettbewerber nicht all zu weit negativ abweicht. Stadtwerke benötigen im allgemeinen eine Fixierung der Beschaffungskosten bis zum 30.09. des Jahres vor Lieferbeginn, somit ist hierdurch das spätest mögliche Enddatum gegeben. Begonnen wird mit der Beschaffung typischerweise 1/2 – 2 Jahre vorher. Hier gibt es einigen Ermessensspielraum.
Die Beschaffungszeitpunkte werden über den Beschaffungszeitraum gleichmäßig verteilt. Der Grundsatz ist dabei, dass zu jedem Beschaffungszeitpunkt etwa gleichviel Menge beschafft werden soll, um für den Gesamtbedarf einen Preis etwa in Höhe des arithmetischen Mittels der erzielten Einzelpreise zu erhalten. Oftmals werden nicht Beschaffungszeitpunkte, sondern Beschaffungsfenster definiert, innerhalb derer der Beschaffungsverantwortliche den eigentlichen Beschaffungszeitpunkt nach Ermessen wählen kann.
Beschaffungszeitpunkte können zusätzlich oder ausschließlich über Limite gesteuert werden, indem chartbasierte Handelsstrategien angewendet werden oder Positionen geschlossen werden, wenn ein vorher definierter Planpreis erreicht ist.
Für die Wahl der Beschaffungsprodukte gibt es im Wesentlichen zwei Optionen:
1. Tranchenbeschaffung
Bei der Tranchenbeschaffung wird der Fahrplan der Bedarfsprognose in soviele gleiche Tranchen unterteilt, wie Beschaffungszeitpunkte gewählt wurden. Zu jedem Beschaffungszeitpunkt wird dann eine Tranche gekauft. Alle Tranchen haben die gleiche Struktur: Wird der Bedarfsfahrplan beispielsweise in 10 Tranchen gekauft, so entsprechen die viertelstündlichen Leistungswerte der Tranche jeweils genau 1/10 der entsprechenden Leistungswerte des Bedarfsfahrplans.
Vorraussetzung für eine solche Beschaffung ist ein Lieferant, der die Beschaffung von Fahrplänen zu marktgerechten Preisen ermöglicht. Bei größeren Unternehmen ist dieser Partner oftmals die eigene Handelsabteilung. Im Sinne obiger Portfoliostrukturen führt zum Beispiel der Vertrieb ein Buch für den sicheren Absatz und bestellt den Bedarf hierfür tranchenweise über das vom Handel geführte Strukturbuch.
Kleineren Unternehmen werden dagegen Lieferverträge angeboten, die eine solche Beschaffung zu freigewählten Beschaffungsterminen ermöglichen. Hierbei ist die abgestimmte Bedarfsprognose Vertragsbestandteil und die entsprechenden Tranchen können dann zu einem Vertragspreis in Abhängigkeit aktueller Marktpreis der folgenden Form bestellt werden:
wobei
V der Vertragspreis für die Tranche
α, β Konstanten
z ein Preisaufschlag in €/MWh
base, peak die zum Beschaffungszeitpunkt aktuellen Base- und Peakpreise
2. Beschaffung von Standardprodukten
Soll wirklich am Markt beschafft werden, so muss der Bedarfsfahrplan sukzessive über liquide handelbare Standardprodukte eingedeckt werden. Hierzu erfolgt zunächst eine Base-Peak-Zerlegung des Bedarfsfahrplans. Der resultierende Stufenfahrplan wird dann wiederum in einzelne handelbare Produkte zerlegt. Die Beschaffung zu den Beschaffungszeitpunkten erfolgt so, dass zu jedem Zeitpunkt ungefähr gleichgroße Mengen beschafft werden und die einzelnen Produkte sukzessive so hintereinander beschafft werden, wie sie liquide werden, d.h. erst werden Jahresbase- und Jahrespeaktranchen beschafft, später Quartale und Monate. Die Glattstellung auf Stundenbasis kann erst während des Lieferjahres erfolgen.
Der Back-to-Back-Prozess
Eine vorhaltende Beschaffungsstrategie folgt grundsätzlich dem folgenden Ablauf:
Im Rahmen eines Back-to-Back-Prozesses ist dagegen die Beschaffung in den Angebotsprozess integriert:
Durch eine kurze Bindefrist – optimalerweise 15 min – wird sichergestellt, dass der dem Kunden gestellte Preis am Markt tatsächlich realisiert werden kann. Weiterhin stellt der Prozess sicher, dass nichts beschafft wird, wenn kein Absatz zustande gekommen ist.
Rollierende Beschaffungsstrategie
Bei vielen Geschäftskunden ist der Absatz zu klein für eine individuelle Beschaffung gemäß dem oben beschriebenen Back-to-Back-Ansatz. Dennoch kann das Kundensegment nicht als sicherer Absatz betrachtet werden und die diesbezüglichen Vertriebsprognosen sind mit hoher Unsicherheit behaftet. Ein solches Kundenportfolio kann mit einer rollierenden Beschaffungsstrategie bedient werden:
Hierzu wird eine kleine Menge vorhaltend beschafft, die dem Absatz in diesem Segment entspricht, den man in den nächsten 2 Wochen oder dem nächsten Monat zu erzielen hofft. Mit dem erzielten Absatzpreis geht man dann an den Markt. Je nach Vertriebserfolg, d.h. nach Bedarf kauft man am Markt nach und kommt so zu einem Prozess wie folgt:
Bei einer solchen Strategie bestimmt immer der aktuelle mittlere Beschaffungspreis der im Portfolio befindlichen Einkaufsmenge den aktuellen Verkaufspreis. Durch die regelmäßigen Nachkäufe ist dieser immer sehr nah am aktuellen Marktpreis.
Solche Beschaffungsstrategien Strom und Gas sind insbesondere für Internetprodukte geeignet, bei denen es oftmals sehr schwer ist, längerfristige Absatzerwartungen im vorhinein abzugeben, während es sehr einfach ist, bei Bedarf den Absatzpreis zu ändern. Generell kann mit einer Automatisierung der Prozesse eine marktnähere Tarifierung von Produkten erreicht werden. Dies ermöglicht die Nutzung von Marktchancen, da sich niedrige Marktpreise sofort in der Kundentarifierung und damit auch schnell im Absatz wiederfinden, und verringert gleichzeitig die Marktrisiken.
Beschaffung für individuelle Verträge
Bei Verträgen mit indizierten Preisregelungen oder Flexibilitäten, die marktrational ausgeübt werden können (d.h. mit Optionalitäten) geht es nicht mehr um die Beschaffung der zugrundeliegenden Mengen, sondern um eine Absicherung der mit den Verträgen verbundenen Ergebnisrisiken über Terminmarktprodukte der beteiligten Commoditymärkte. Mögliche Beispiele sind:
1. Spotindizierte Verträge
Wird ein Kunde zum EPEX-Spotpreis beliefert, so muss die Menge nach Möglichkeit auch erst auf dem Spotmarkt beschafft werden – unabhängig davon, dass der erwartete Absatz möglicherweise schon Jahre vorher bekannt und kontrahiert ist.
2. Basepreis-indizierte Verträge
Verkauft man einem Industriekunden eine Baselieferung Strom oder Gas zu dem Mittelwert aller Base-Settlementpreise an den Handelstagen des Vorjahres für das Lieferjahr, so besteht die optimale Absicherung darin, an jedem Handelstag den entsprechenden Anteil der Lieferung einzudecken. Die praktische Absicherung wird auch Aufwand, Transaktionskosten und die Wahrnehmung von Chancen am Markt beinhalten.
3. Flexible ölgebundene Lieferverträge
Verkauft man einem Kunden einen ölgebundenen Gasliefervertrag mit Flexibilitäten, so hat der Kunde innerhalb der Flexibilitäten die Option Gas zu dem ölgebundenen Preis zu beziehen und zu den Gas-Spot- und Terminpreisen zu verkaufen. Eine solche Option kann mit finanzmathematischen Methoden bewertet werden (wiewohl dies für die meisten real-existierenden Verträge nicht einfach ist und Black-Scoles und Verwandte hier eher wenig weiterhelfen) und es kann mit solchen Methoden auch eine optimale Absicherungsstrategie an den Terminmärkten entwickelt werden.
3. Absicherung der Kraftwerkserzeugung am Terminmarkt
Ein besonders relevanter Spezialfall des letzten Themas – der Bewirtschaftung von Realoptionen an den Commodity-Märkten – ist die Einsatzoptimierung und Vermarktung eines Kraftwerks. Doch dies ist Gegenstand eines anderen Artikels.
Bin erst vor kurzem auf den Blog gestossen und finde die Artikel wirklich interessant! Schade, dass es aktuell keine neuen Artikel mehr gibt. Trotzdem grosses Lob für den Blog.
Herzlichen Dank für eine tolle Zusammenfassung dieses doch sehr komplexen Themas. Habe den Blog gestern entdeckt und bin begeistert. Lediglich fehlt mir ein kurzer Vermerk zu den verwendeten Quellen.
Danke für das positive Feedback! Der Artikel zur Beschaffungsstrategie gibt wieder, was mir nach 15 Jahren Berufserfahrung in der Energiebranche üblich, verbreitet und vernünftig erscheint. Quellen habe ich dazu nicht weiter verwendet. Bei den quantitativen oder regulierungslastigen Artikeln gibt es Verweise auf weiterführende Artikel, Regulierungstexte und dergleichen.